Niederzier | Thomas Hitzlsperger outete sich 2014 als schwul. Der ehemalige Fußball-Nationalspieler schaut aus einem großen Zeitungsbericht, der an einer Schulpinnwand hängt. Daneben allerlei anderes Wissenswertes zum Thema Sexualität, Gender und Identität. „Die Pinnwand hängt an einem Ort, an dem in der Schule alle – Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte – immer wieder vorbeikommen oder auch dort warten müssen“, erklärt Christiane Jeß. Sie ist Lehrerin für Englisch und Erdkunde an der Gesamtschule Niederzier-Merzenich und Verantwortliche für das Projekt „Schule der Vielfalt“ an der Gesamtschule im Kreis Düren. Ziel von „Schule der Vielfalt“ ist: Homophobie und Transfeindlichkeit entgegentreten, eine Atmosphäre der Akzeptanz in Schule schaffen. Die Gesamtschule Niederzier-Merzenich ist schon fast zehn Jahre dabei und war die zweite Projektschule in Nordrhein-Westfalen.
Für Svenja, Havia, Celine, Amariah, Julia, Sebastian, Angelina, Elisa und Lea ist es ganz normal, dass der eine oder die andere homo- oder bisexuell ist und dies auch offen lebt. Auch trans sein – also bestimmte Geschlechtsmerkmale wie einen Penis oder eine Vagina haben, sich aber nicht entsprechend als Junge oder Mädchen fühlen –, ist für die 15- und 16-Jährigen nichts Außergewöhnliches. Der Horizont der Jugendlichen geht ebenso über binäre Geschlechtermodelle hinaus. „Hier muss niemand Angst haben, man wird für nichts verurteilt“, meint Svenja. „Egal wie man gekleidet ist oder welche Identität man hat.“ Havia findet sogar: „Die Vielfalt kommt auf mich zu. Und das inspiriert mich.“ Gerade im Vergleich zu anderen Lehranstalten sehen sie ihre Schule als weit vorangeschritten auf dem Weg zu einer vielfältigen Gesellschaft, die alle Spielarten der Natur akzeptiert. „Ich bin immer überrascht, wenn ich auf Ablehnung treffe, weil ich das aus unserer Schule nicht kenne“, sagt Julia.
Trotzdem: Auch an der Gesamtschule Nierzier-Merzenich wird manchmal „Schwuchtel“ als Schimpfwort über den Schulhof gebrüllt. Über 1100 Schülerinnen und Schüler an zwei Standorten – da sind nicht immer alle nett zueinander. „Es gibt immer Verbesserungsmöglichkeiten. Wir sind nicht perfekt“, erklärt Amariah so auch selbstkritisch.
„Die Idee von Vielfalt als Normalität ist noch nicht bei allen angekommen.“
Amariah, Schülerin an der Gesamtschule Niederzier-Merzenich
Ähnlich wie beim Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ reicht es deshalb nicht, als „Schule der Vielfalt“ einmal eine Projektwoche zum Thema abzuhalten, sich ein schönes Schild aufzuhängen und nie wieder darüber zu sprechen. „Gleichzeitig muss man eine gute Balance finden, um die Jugendlichen nicht zu überfordern und dadurch mehr Ablehnung zu produzieren. Wir müssen mit der gesellschaftlichen Entwicklung mitschwingen“, erklärt Jeß.
Wie viele zusätzliche Regenbogenfahnen sind im Pride-Monat im Schulgebäude in Niederzier – dem Standort der Mittel- und Oberstufe – angemessen? Welche Informationen sollen die Pinnwand im Flur zum Lehrer*innenzimmer füllen? Welche Spielräume gibt der Kernlehrplan des Landes für LGTBQI-Themen? Solche Fragen werden an der Gesamtschule Niederzier-Merzenich vor allem am Standort Niederzier immer wieder erörtert. „Es geht darum, die Bedürfnisse aller an der Schule zu sehen und zu beachten. Unser Ziel ist ‚queer sein‘ als normal anzusehen. Das ist mehr als Toleranz“, so Jeß. Der Holzhammer sei für solch ein Ansinnen das falsche Instrument. Mit Geduld und dem Vermitteln von Wissen komme man deutlich nachhaltiger voran. Von alleine blühe eine „Schule der Vielfalt“ zugleich auch nicht auf.
Die Schülerinnen und Schüler profitieren nach eigenen Aussagen sehr von dieser Strategie: „Die Atmosphäre ohne Diskriminierung und das Wissen über queere Themen machen selbstbewusst“, sagt Celine, die sich mit Schuleintritt nicht hätte vorstellen können, dass sie sich in der Schülervertretung engagiert – gerade für die Einrichtung einer Unisex-Toilette – und bei der Abschlussfeier des zehnten Jahrgangs die Abschlussrede hält. Sebastian findet auch außerhalb der Schule manchmal den Mut, sich Homophobie und Transfeindlichkeit entgegen zu stellen: „Durch das Wissen, das ich hier in der Schule erworben habe, kann ich auch andere aufklären. Zumindest in weniger aggressiven Situationen tue ich das.“
Schule ist ein Lernfeld – gerade in Sachen Vielfalt und Respekt. „Es ist ein Genuss, wenn es in den Hirnen sichtbar rattert“, meint SV-Lehrer Jan Schillings, bei dem sich diese Zufriedenheit vor allem dann einstellt, wenn das Verstehen über die Anforderungen des Chemie-Unterrichts hinausgeht. „Unser Auftrag als Schule ist es, kompetente und mündige Bürger zu erziehen.“