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Reifen platt, Seele platt – und nun ?

Düren | Schulseelsorge – was sich vielleicht ein wenig piefig anhört, ist für viele Schülerinnen und Schüler ein wichtiger Anker in den Stürmen des Großwerdens. „Wir werden bezahlt, um Zeit zu haben“, erklärt Mechtild Bölting, die als Schulsozialarbeiterin zusammen mit Schulseelsorger Michael Kruse an der Bischöflichen St.-Angela-Schule das Feld der Schulseelsorge und Schulsozialarbeit abdeckt. Egal wie – sie hat wesentlichen Anteil an einem gelingenden Miteinander von Schulgemeinschaften nicht nur an kirchlichen Schulen.

Die Kette ist abgesprungen oder der Reifen platt. Vielleicht ist zusätzlich die Seele platt oder die Motivation abgesprungen. Wo wirklich der Schuh drückt, erfährt Rudi Hürtgen oft in den Fahrradwerkstätten an der Realschule Wernerstraße und an der Förderschule Athenée Royal in Düren. Er ist wie Kruse Schulseelsorger (zusätzlich am Gymnasium am Wirteltor) und repariert neben Fahrrädern dort auch die ein oder andere Seele.

Neue Sichtweisen finden

„Vieles passiert übers Tun“, erklärt Hürtgen. Beim Bremsen Reparieren und Schaltung einstellen entstehen Gespräche, die sich keins der Kinder und Jugendlichen so vorgenommen haben und trotzdem oft dankbar annehmen. Darin können sie neue Sichtweisen einnehmen – auf sich, auf ihr Leben, auf ihre Umgebung.

„Wenn Du denkst, dass Du niemandem mehr trauen kannst, ist es gut, eine neue Perspektive zu entwickeln.“

Rudi Hürtgen, Schulseelsorger

Auch wenn alles in Ordnung ist, wirkt Schulseelsorge: „Wir können schlummernde Talente aufdecken, Selbstwirksamkeit erlebbar machen, Gemeinschaftssinn und Kreativität fördern“, erläuterte Kruse, der neben der St. Angela-Schule auch das Burgau-Gymnasium betreut. „So entwickeln die Schülerinnen und Schüler Resilienz.“ Bölting hat schon gehört: „Sie sind doch die Sozialseelsorgerin – gut zu wissen.“ Allein, dass das niedrigschwellige Angebot, jemand Drittes kurzfristig und unkompliziert bei Problemen ins Boot holen zu können, existiert, „gibt ein Gefühl von Rückendeckung“. Dazu kommt die religionsübergreifende Gestaltung von Meilensteinen wie Schuleintritt und Abschluss. Manchmal springen Schulseelsorger auch als Unterrichtsvertretung ein. Bewegte Pausen verschaffen Kindern Spielpartner, die (noch) keine Freunde finden konnten. Das alles nimmt Druck aus dem System und fördert die Gemeinschaft.

Haben ein offenes Ohr: Mechtild Bölting und Michael Kruse Foto: Elmar Falter

Die mehrmonatigen Schulschließungen und Teilöffnungen im Wechselunterricht hat die Dürener Schulseelsorge allerdings besonders gefordert: Fünfer-Klassen, die kaum eine Chance hatten, sich richtig kennenzulernen; Schülerinnen und Schüler, denen „vor lauter Drei-Zimmer-Wohnung“ die Decke auf den Kopf fiel; Kinder, denen Tagesrhythmus und Lernmotivation komplett abhandengekommen sind. Und zugleich keine Chance auf Tür-und-Angel-Gespräche. Ein wesentliches Merkmal von Schulseelsorge – Niedrigschwelligkeit – war ausgebremst.

„Aber anders als im ersten Lockdown, in dem wir recht lange gebraucht haben, auf digitale Formate umzustellen, fiel uns der Umstieg jetzt nicht mehr schwer“, berichtet Kruse. Freiwilliges Motivationscoaching, digitale Klassentreffen, Fastenimpulse passend zur Seelenlage der Schülerinnen und Schüler, eine „Aschermittwoch-Klagemauer“, die zu Konfetti verarbeitet wird – die Schulseelsorge und -sozialarbeit nutzte die digitalen Möglichkeiten kreativ. Die verbliebenen analogen Möglichkeiten waren zudem ein wichtiger Einstieg, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Egal ob in der Notbetreuung, in den weiterhin geöffneten Fahrradwerkstätten oder beim Abholen von Leih-Computern fürs Distanzlernen. „Ich habe auch Hausbesuche bei völlig abgetauchten Schülerinnen und Schülern gemacht“, berichtet Hürtgen.

Corona-Folgen verschwinden nicht

Bei aller Kreativität – die Auswirkungen der Schulschließung auf die psychosoziale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler war immens und damit auch die Herausforderungen für die Schulseelsorge groß. Und sie werden auch mit Rückkehr zum weitgehend normalen Schulalltag nicht sofort verschwinden. „Es gibt bereits Schülerinnen und Schüler, die nicht wieder in die Schule kommen wollen. Aber die ganze Bandbreite der Probleme ist noch nicht bei uns angekommen“, erzählt Bölting. „Es ist gut, wenn wir frühzeitig von solchen oder auch anderen Schwierigkeiten erfahren.“ Oft helfe den Kindern schon zu hören, dass sie nicht allein dieses Problem haben und dass solche Gefühle nicht sofort Zeichen für eine psychische Erkrankung sind. Schließlich könne die Pandemie auch eine Gelegenheit sein zu wachsen. „Die Kinder und Jugendlichen haben so viel geschafft. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Welt weiterdreht. Das wollen wir ihnen vermitteln“, beschreibt Bölting, was ihre Kollegen und sie sich für die nächsten Wochen vorgenommen hat.