Schon vor Jahren sind die letzten Geschlechterschranken in der Berufswelt gefallen, nicht aber im Kopf vieler Mädchen und Jungen, Der “Girls’- und Boys’ Day” weckt Interesse am Anderen.
AACHEN Frauenberuf? Männerberuf? Eigentlich gibt es das nicht mehr. Frauen können Soldatin werden, Männer Hebamme – auch wenn sie dann Geburtshelfer heißen. Das waren die letzten Geschlechterschranken in der Berufswelt, die auch schon vor einigen Jahren gefallen sind. Trotzdem wählt die überwiegende Mehrheit der Schulabgänger:innen geschlechterstereotype Ausbildungen (siehe Info). Vielleicht, weil sie „die andere Seite“ nicht kennen? Beim Girls‘- und Boys‘-Day können sie einmal im Jahr auf neue Ideen kommen. Ein Besuch in der der Lebenshilfe Aachen, eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Zwei Werkstatt-Standorte
Bei der „Werkstätten & Service GmbH“ arbeiten insgesamt 885 Menschen mit ganz unterschiedlich schweren Beeinträchtigung. Die meisten sind an zwei Werkstatt-Standorten in Aachen in sehr vielen verschiedenen Bereichen eingesetzt: Holzwerkstatt, Verpackung, Küche, Gartenbau, Kunstwerkstatt sind nur einige. Es gibt auch einen heilpädagogischen Bereich, in dem Menschen einen Arbeitsplatz haben, die nicht im Sinne einer Produktion arbeiten. 95 Beschäftigte arbeiten an integrierten Arbeitsplätzen mit arbeitspädagogischer Unterstützung durch die Lebenshilfe bei anderen Unternehmen. In allen Abteilungen und in der übergeordneten Verwaltung werden zudem Menschen gebraucht, die die Arbeit der Menschen mit Behinderung anleiten und unterstützen: Tischlermeister:innen, Sozialpädagog:innen, Köch:innen, Gärtner:innen, Heilpädagog:innen, aber auch Kaufleute für Büromanagement, IT-Fachleute, medizinische Fachangestellte und noch viel mehr.
Unter einem Dach
Hier finden sich also klassische Männer- und Frauenberufe unter einem Dach, in allen Berufsfeldern wird auch ausgebildet. Beim Zukunftstag – so heißen Girls‘- und Boys‘-Day auch – kamen deshalb Schülerinnen und Schüler in die Werkstatt. „Ich halte es für ein zielführendes Format, weil die Schülerinnen und Schüler über ihren Tellerrand hinausschauen können und sehen, welche vielen Möglichkeiten sie haben“, sagte André Beckers, Personalleiter der Lebenshilfe-Werkstatt. Natürlich erhofft er sich auch, selbst davon zu profitieren: „Auch wenn wir das produzierende Gewerbe mit dem sozialen Aspekt verbinden und dadurch schon mehr Diversität vorweisen können, würde ich mir eine weitere Verbesserung wünschen.“
Diversität bei der Ausbildungssuche?
Mädchen und Jungs entscheiden anders
Laut der Webseite azubi.de – ein Unternehmen der Funke-Mediengruppe – suchen 38,9 Prozent der Schulabgängerinnen einen Ausbildungsplatz im Bereich Gesundheit und Soziales. Immerhin noch mehr als 22 Prozent im Bereich Erziehung und Bildung, gefolgt von den Bereichen Büro und Verwaltung (20,8 Prozent), Kunst, Kultur, Musik und Gestaltung (19,1) sowie Medien und Design (17,6).
Jungen streben weiterhin in die Bereiche Handwerk (27,6 Prozent), Technik (21,1), Elektronik und Mechatronik (20,9), Schutz und Sicherheit (16,7) und Handel, Verkauf und Vertrieb (13,6).
Der beliebteste Ausbildungsberuf bei Jungen ist immer noch der Kraftfahrzeugmechatroniker, bei Mädchen die Kauffrau im Büromanagement.
Pflegefachleute verdienen in der Ausbildung besser als ein Fachinformatiker oder eine Fachinformatikerin, Polizisten und Polizistinnen besser als ein Bankkaufmann oder eine Bankkauffrau (siehe www.ausbildung.de).
Ausprobieren erwünscht
Sechs Jungen und acht Mädchen waren an diesem Tag dabei. Die Jungen probierten sich im heilpädagogischen Bereich und in der Arbeitsunterstützung aus, die Mädchen in der Holzwerkstatt, in der IT und Arbeitssicherheit sowie später im Gartenbau. Der elfjährige Giacomo, der in die 6. Klasse auf der 4. Aachener Gesamtschule geht, stand an diesem Vormittag Bugra Congar in der Verpackung zur Seite. Die beiden sind schnell miteinander ins Gespräch gekommen. „Es macht Spaß mit den Menschen mit Beeinträchtigung zu kommunizieren“, fand Giacomo. Er kann sich durchaus vorstellen, etwas ähnliches irgendwann beruflich zu machen. „Ich helfe gern. Das macht Spaß.“
Arbeiten mit den Händen
Maya (13) mag auch anderen helfen, „aber ich mag auch das Arbeiten mit der Hand“. Ein Baumhaus hat sie schon mal gebaut. Deshalb läge eine Ausbildung zur Tischlerin gar nicht mal so fern – auch weil ihr der Vormittag in der Holzwerkstatt durchaus Freude bereitet hat. „Physiotherapie kann ich mir im Moment aber eher vorstellen“, sagte die Schülerin des Aachener Gymnasiums St. Ursula. Jamie von der Städtischen Gesamtschule Stolberg zieht es jungentypisch eher ins Handwerk. „Elektroniker finde ich gut“, erklärte der 14-Jährige, auch wenn er in der Arbeitsunterstützung mit Freude dabei ist. Alle Schranken im Kopf fallen an einem Zukunftstag eben noch nicht, aber ein Anfang ist vielleicht gemacht. „Mädchen- oder Jungenberufe gibt es doch nicht. Jeder kann alles machen“, meinte zumindest Jamie.